Graffiti: Believe in yourself

Kontrollierte Entschleunigung und dosierte Achtsamkeit

Die Menschen reden von Slow Food und kochen im Thermomix. Bestellen Bücher über die Entschleunigung des Alltags via Amazon Prime. Besuchen Seminare zum Thema Achtsamkeit und werfen mit Fäkalien um sich, wenn jemand an der Ampel zu langsam in die Pedale tritt.

Im Laufe der Geschichte gehörte immer wieder irgendwer, irgendwo auf dieser Welt, aus triftigen Gründen einer „verlorenen Generation“ an. Heute lassen sich eine Reihe von Jahrgängen als „verwirrt“ bezeichnen.

Was nützt es, dass die Pest inzwischen mithilfe von Antibiotika behandelt werden kann, die Arbeitslosenquote von Tag zu Tag sinkt oder der „o.b. Flexia Tag + Nacht“ Frauen bis zu einhundertprozentigen Schutz bietet? Neben der Globalisierung bedrängt uns die Digitalisierung und das Böse lauert nicht mehr hinter einem eisernen Vorhang, sondern an jeder Ecke. Das versetzt die Gesellschaft (nicht ausschließlich, aber auch) hierzulande in einen andauernden Zustand der Verblüffung: So viele Veränderungen. So viele Möglichkeiten. Was tun?

Geben Sie jegliche Verantwortung und Ihre Willensfreiheit an die Markenhersteller Ihres Vertrauens ab. Die kümmern sich dann um alles.

Wenn Sie zu den echten Kerlen zählen, nehmen Sie sich ruhig mehr Zeit fürs Wesentliche im Leben. Zwischen Arbeit, Freunden und Familie sollten Sie schließlich auf sich selbst achten. Aber bitte unter Anleitung – die neue Ausgabe von Cord bietet sich als vertrauenswürdiger Ratgeber an. (Das Konzept hieß zunächst „Wolf“, aber Raubtiere, die im Rudel leben, sind derzeit nicht angesagt.) Frauen konzentrieren sich lieber auf Selbstgemachtes und spüren das gute Gefühl von Geborgenheit – mit behutsamer Unterstützung von hygge. Zu stereotyp? Ach was. Vielleicht hilft ein Bad mit der richtigen Motivationsblubberblase („Du bist einfach großartig!“, „Alles wird gut!“, „Hab dich lieb!“). Aber verweilen Sie da drinnen bitte nicht zu lange. Apple kann sonst Ihre ideale Dosis an Selbstgeißelung nicht korrekt berechnen.

Sie wissen noch, was Ihrem Nachbarn letzten Monat passiert ist, als er das vegane Schnitzel bei Aldi kaufen wollte? Seinen auf Hochglanz polierten VW, dessen Dieselabgase in New Mexiko sorgfältig an Affen wie Menschen getestet wurden, musste man abschleppen. Nur, weil er kurz vor dem Yoga-Kurs die Auslastung des Behindertenparkplatzes verbessern wollte. Das gab richtig miese Statistiken in der „Health App“. An der Optimierung der vier Schlüssel für ein gesundes Leben („Aktivität“, „Schlaf“,„Ernährung“, „Achtsamkeit“) arbeitet der Arme bis heute.

Vergessen Sie also bloß nicht die „Atmen App“ auf der Apple Watch zu aktivieren. Erinnern Sie sich außerdem stets daran, was der Harvard Business Manager in seiner 2017 / Januar-Ausgabe (Schwerpunkt: Achtsamkeit) schrieb: Mikro-Meditationen dauern gerade einmal eine bis maximal drei Minuten. Diese  integrieren Sie gewiss problemlos in Ihren Tagesablauf. Nicht wahr? Zur Sicherheit laden Sie sich die „Achtsamkeit App“ herunter. Sie schickt Ihnen den ganzen Tag über lebenswichtige Hinweise und motivierende KPIs (= Key Performance Indicators = Leistungskennzahlen). Falls es mal eng wird, schlucken Sie ein wenig Re-Load Vital.

Hauptsache, eine Konzentrationsschwäche, ob vorsätzlich herbeigeführt oder grob fahrlässig, schränkt Sie nicht ein. Ihrem Arbeitgeber dürfte das gar nicht gefallen. All die Maßnahmen, in die zurzeit investiert wird: „Search Inside Yourself“-Bücher für die gesamte Belegschaft, Kopfmassagen für Manager, die MINDFULNESS – Tagung für Personaler – damit Sie effizient bleiben.

Übrigens: Haben Sie schon die Petition gegen ein allgemeines Tempolimit auf deutschen Autobahnen unterzeichnet? Sie wollen doch das Recht, die Schallmauer zu durchbrechen, wenn Ihnen danach ist, behalten? Das lassen sich die glücklichen Menschen in Nordkorea ja auch nicht nehmen.

Schauen Sie nach getaner Arbeit eine Serie an, die Netflix für Sie ausgesucht hat. Genießen Sie dazu ein Pseudo-Craft-Bier von Beck’s (Beck’s gehört der AB-InBev, also der weltweit größten Brauerei mit Sitz in Belgien), zum Beispiel „Beck’s Red Ale“. Mit jedem Schluck dieses Industrieerzeugnisses setzt sich die Illusion von Irlands wilden Landschaften auf Ihrer Zunge ab. Das entschleunigt.

 

It’s getting worse and it’s spreading.

(Es wird schlimmer und es breitet sich aus.)

Bill Bryson, „The Road to Little Dribbling”

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