Underwood Schreibmaschine mit Text von Jules Verne

Die Reise zum individuellen Schneckenhaus

„Monsieur, was ist eigentlich eine Perle?“

„… für den Poeten ist sie eine Träne des Meeres, für die Orientalen ein geronnener Tropfen Morgentau, für die Damenwelt handelt es sich um ein rundes Kleinod aus Perlmutt von durchsichtigem Glanz, das sie am Finger, um den Hals oder als Ohrring trägt, für den Chemiker stellt sie eine Verbindung aus Phosphat, Kalziumkarbonat und etwas Gelatine dar, während der Naturforscher sie schlichtweg als eine krankhafte Absonderung jenes Organs betrachtet, das bei bestimmten Muscheln das Perlmutt bildet.“

Jeder von uns sieht die Welt mit anderen Augen. Das war auch schon so, als Jules Verne 1870 den Roman „20.000 Meilen unter den Meeren“ veröffentlichte, in einer Epoche, die so wie unsere, vom technischen Fortschritt beherrscht wurde. Damals machte man sich noch keine Gedanken darum, wie die menschliche Vielfalt für kommerzielle Zwecke ausgenutzt werden könnte. Die Hochzeit der Massenproduktion sowie die Erfindung des Internets standen schließlich erst bevor und das Individuum musste nicht fürchten, dass ein Unternehmen es in digitale Einzelteile zerlegt. Heute bedienen wir uns sorglos der Algorithmen, um das tiefste Innere des Einzelnen zu erforschen – unter dem Vorwand, für ihn das Beste zu wollen.

Unternehmen sind geradezu versessen darauf, aus der menschlichen Einzigartigkeit Profit zu schlagen. Die Bestrebung, Produkte oder Dienstleistungen zu individualisieren, und auf diese Weise die Loyalität von Kunden zu gewinnen, umfasst die unterschiedlichsten Bereiche: Das Wetteifern fängt beim nutella-Glas an und hört bei personalisierter Medizin noch lange nicht auf. Theoretisch dürfte kein Einkaufserlebnis mehr dem anderen gleichen. Praktisch stehen wir am Anfang der Revolution. Die Beherrschung von Big Data sowie die konsequente Implementierung der sich aus der Analyse ergebenden Erkenntnisse (Voraussetzungen für den Erfolg individualisierter Produkte) bleiben vielerorts ein Thema, das sich ganz gut in einer PowerPoint-Präsentation macht, mit der man beeindrucken möchte. Im Alltag landet das Thema häufig in einer „Darüber sollte man sich mal in einer ruhigen Minute Gedanken machen – Schublade“.

Zum Glück. Denn nicht alles, was möglich ist, sollte man auch realisieren. Nehmen wir das „Visual Perceptive Media“ – Projekt von BBC. Die Macher möchten, dass Sie sich eine Welt vorstellen, in der die Handlung eines Films sich Ihrem Profil anpasst. Der „Inhalt“ (alleine das Wort klingt würdelos), der sich für Sie „natürlich“ anfühlen soll (das erinnert an natürliche Aromen, die nichts anderes sind als farbige Sägespäne), wäre dann ein auf Sie zugeschnittenes Unikat. Vorausgesetzt Sie erlauben via Telefon-App den Zugriff auf Ihre Musiksammlung und beantworten persönliche Fragen.

Aber wo soll das hinführen? Zählen Geschichten, die mit Hilfe von bewegten Bildern erzählt werden, nicht zur Kunst, die im besten Fall unseren Horizont erweitert? Wie kommen wir je aus unserer beschränkten Gedankenwelt heraus, wenn man alles auf unsere Parameter abstimmt? Ganz abgesehen davon, dass uns die Unterhaltungsindustrie den Spaß nimmt, sich über einen schlechten Film aufzuregen. Denn, wenn der Algorithmus es tatsächlich einmal schafft, unsere Gedanken- und Gefühlswelt gänzlich anzuzapfen (eine Horrorvision, die bereits mehrfach verfilmt wurde), werden wir nie wieder einen Film sehen, der zu leidenschaftlichen Diskussionen anregt.

Nichts spricht gegen Fortschritt. Das würde wahrscheinlich auch Greta Garbo so sehen, wenn sie noch lebte. Ihre ersten Filme waren stumm. Ihre letzten voller, in ihrer unverwechselbaren Stimme vorgetragenen, Worte. Schwarz-Weiß verwandelte sich allmählich in Farbe. Zelluloid ist inzwischen so rar geworden wie der Winter in Mitteleuropa. Die Zukunft bilden unweigerlich digitale Signale, gesendet in Kinos und private Haushalte.

Aber hätte Garbo Netflix, den Star unter den Online-Videotheken, der seine eigenen „Inhalte“ produziert, kennengelernt, wäre sie dafür gewesen, die Handlung in der Serie „House of Cards“ selbst beeinflussen zu können? Möglicherweise wäre in ihrer Version die Hauptfigur Frank Underwood nie fähig gewesen, jemanden umzubringen und folglich nie Präsident geworden. Was genau hätte sie von dieser für sie vorhersehbaren Handlung gehabt? Niemand weiß es.

Doch findet das BBC-Experiment Zuspruch, begegnen uns Inspiration und gemeinsamer Diskussionsstoff womöglich nur mehr in Independent-Filmen oder Klassikern – vorausgesetzt, wir sind bereit, unser selbst erbautes Schneckenhaus zu verlassen.

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