Ein mittelalterliches Stadttor trotzt selbstbewusst Wetter, Zeit und Planungswahnsinn. Es lächelt einem kränkelnden Bau der fünfziger Jahre entgegen. Die beiden blicken auf ein kaum drei Jahre altes Gerüst aus Metall und Glas, das an nichts erinnert und viele erschreckt. Daneben steht der leblose Schatten eines wieder auferstanden Palastes. Er wirkt fehl am Platz. Die Fenster zu seiner Seele schauen einen traurig an und man erkennt in ihnen die Furcht vor der Bedeutungslosigkeit. Inmitten dieser großen Kulisse steht man als winziges menschliches Wesen da und fragt sich, verklärt oder verwundert: Wenn ich mich in die Vergangenheit wünschen könnte, was würde mich hier erwarten?
Eine Marketingagentur aus Michigan, USA, versucht, eine Antwort auf diese Frage zu geben. Das dazugehörige Projekt heißt: „WhatWasThere.com“
„WhatWasThere.com“ verbindet geschickt Technologie, Fotografie, Google Street View und den Willen, sich durch Raum und Zeit zu bewegen. Das Ziel: Orte erleben, wie sie früher einmal waren. Zum Leben erweckt wird das Ganze durch eine Website und eine entsprechende mobile Applikation. Man begegnet einer akkuraten Verarbeitung von Daten, innerhalb einer technisch komplexen Anwendung, die hochmoderne Programmier-Tricks benutzt.
Der angemeldete Nutzer lädt Fotos hoch und platziert sie exakt auf einer Karte. Wird ein Foto über die Daten von Google Street View gelegt, kann man mit Hilfe einer „Fade“ Funktion sehen, wie Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen. Weiß man die Adresse nicht genau, sollen andere Nutzer beim Orten helfen. Wer weder Nutzernamen noch Passwort anlegen möchte, kann das Archiv durchstöbern und sich im Irgendwo und Irgendwann verlieren. Nutzt man die Applikation auf seinem iPhone, wird man, mittels erweiterter Realität, an einem bestimmten Ort in dessen Vergangenheit versetzt. (Das hat nichts mit bewusstseinserweiternden Substanzen zu tun: Die Erweiterung der Realitätswahrnehmung mit Hilfe von Technologie nennt man „erweiterte Realität“ oder „Augmented Reality“.)
Das Projekt ist eine hervorragende Fallstudie für ein Marketingunternehmen, das seinen Unterhalt mit digitalem Marketing verdient. Das interaktive, von Nutzern getriebene, Online-Archiv zeigt auf anschauliche Weise, wie man eine Applikation zum globalen Erlebnis machen kann. Gleich mehrere angebotene Dienstleistungen werden vorgeführt: Digitale Strategie und Planung, Website Design, Entwicklung von Applikationen und Plattformen, Nutzung von Sozialen Medien.
Doch was treibt den Nutzer an? Sehnsucht, Tatkraft, Wunsch nach Gemeinschaft, Reiselust, Fluchttrieb, Fantasie, Liebe zum Archivieren?
Archivieren und Nachschlagen
1896 brauchte man ein Regal, das 113 cm lang, 54 cm hoch und 20 cm tief war, um das Brockhaus Konversations-Lexikon zu verstauen. Heute kann man den Zugang zu einem Nachschlagewerk schon auf einem 115 mm hohen, 59 mm breiten, 9 mm tiefen Gerät bequem genießen. Ein Regal braucht man dazu nicht. Einen Verleger auch nicht. Der Erfolg von Wikipedia zeigt deutlich, dass der Mensch bereit ist, unentgeltlich sein Wissen zu teilen.
Ein Bild festhalten
Während das Lexikon im neunzehnten Jahrhundert noch von Zeichnungen lebte, ist das moderne mobile Gerät mit einer Kamera ausgestattet. Fotos können jederzeit und überall aufgenommen werden. Alte Fotos wiederum werden eingescannt. Nichts hält einen davon ab, Bilder von gestern und heute für immer festzuhalten.
Der Fantasie freien Lauf lassen
Manchmal stehen wir an einem Ort und hören seinen Herzschlag: Ein Wispern zwischen den Mauern. Ein verwunschener Garten. Eine verwitterte Holzbank. Ein Baum, dessen Äste im Dunkeln wie ausgebreitete Arme wirken. Eine Laterne, die lange vor der Erfindung der Elektrizität, unheimliche Spannung erzeugen konnte. Wir lauschen der Geschichte und lassen uns entführen…
… „Ende der siebziger Jahre war Barcelona eine Fata Morgana von Boulevards und engen Gässchen, wo man allein beim Betreten eines Hausflurs oder eines Cafés dreißig oder vierzig Jahre in die Vergangenheit zurückreisen konnte. In dieser magischen Stadt verliefen Zeit und Erinnerung, Geschichte und Fiktion wie Aquarelle im Regen.“… *
*Carlos Ruiz Zafón, „Marina“