Altes Radio

Video hat bisher niemanden ins Grab gebracht

Es heißt, der öffentlich-rechtliche Rundfunk sichere gleichgewichtige Vielfalt und stehe für ein breites Programmangebot. In den Momenten, in denen bei hr1 (dem ersten Programm des Hessischen Rundfunks) einmal wieder „It’s Raining Men“ von den Weather Girls ertönt, meint man jedoch – diesen Grundsatz erinnernd – ein Lachen zu vernehmen. Es klingt als käme es direkt aus der Hölle, denn das tut es. In Wirklichkeit nämlich führen die Verantwortlichen, in Zusammenarbeit mit dem Teufel, Experimente durch. Eines besteht darin, herauszufinden, ob man Menschen mithilfe einer hypnotischen Monotonie in eine Kapsel locken kann, um sie dann auf die Venus zu schießen, wo Luzifer bei 460°C eine Zweigstelle betreibt. Gelingt dieser erste Schritt, leitet der Bryan Adams Song „Summer of 69“ die zweite Phase des Unterfangens ein.

Und wer finanziert das Ganze? Sie und ich natürlich – es handelt sich um staatliche Forschungen. Von den 17,50 Euro für den monatlichen Rundfunkbeitrag gehen 12,37 Euro an den Hessischen Rundfunk (oder den Norddeutschen, Westdeutschen usw. – wir haben neun Landesrundfunkanstalten und sie alle gehen auf ähnliche Weise vor), ein Teil davon eben an hr1. Im Jahr macht die Gesamtgebühr für Funk und Fernsehen 210 Euro pro Person aus. Bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung in Deutschland von 81 Jahren und einem ordentlichen Auszug am 18. Geburtstag zahlen Sie also, über Ihr gesamtes Leben verteilt, 13.230 Euro für diese gewagten Versuche (das Fernsehen schreckt keinesfalls vor eigenen zwielichtigen Vorhaben zurück).

Als das Radio in den 1920er-Jahren anfing, sich in deutschen Haushalten einzufinden, begegneten die Macher den Zuhörern noch mit Vorsicht. Man begann in kleinen Schritten zu informieren und zu unterhalten. (Früher war alles langsamer und ineffizienter.) Zu Zwecken der Unterhaltung sichteten jahrzehntelang sogenannte Disc­jo­ckeys (DJs) mehr oder weniger populäre Schallplatten, später Compact Discs (CDs), und präsentierten die geistigen Produkte der Künstler innerhalb ihrer Sendungen. Reisten sie in einen entfernten Winkel der Welt, sammelten DJs dort neue Inspirationen, die sie zu Hause teilen konnten.

Der Zyniker mag behaupten, die Ära sei längst vorbei, der DJ nur noch im Club zu finden. Wer braucht in Zeiten von Spotify und YouTube noch einen, der einem irgendetwas vorspielt? Die Hauptsender der jeweiligen Bundesländer stellen schließlich Massenprogramme zur Verfügung, in denen sie meinen, es jedem recht machen zu müssen. Und weil es alle Welt tut, glaubt auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk an die Macht der Algorithmen – heute bestimmen sie das Musikprogramm. Ein wesentlicher Parameter ist dabei das Alter der Zuhörer. So spricht hr1 35- bis 55-jährige aktiv im Leben stehende Menschen an. Als passend befunden wird für sie eine Musikmischung aus fünf Jahrzehnten mit dem Fokus auf Pop- und Rock-Musik der 1980er Jahre. hr3 stellt die Alternative für Familien und Berufstätige von 25 bis 49 Jahren dar (die vermutlich nicht allzu aktiv im Leben stehen) – mit deutscher und internationaler Popmusik (experimentgebundenes Pendant zu den Weather Girls: Adel Tawil mit „Ist da jemand?“) samt aktuellen Lieblingssongs (des Algorithmus).

Als Teil einer dieser Zielgruppen fragen Sie sich vielleicht: Was hat das Alter mit dem Musikgeschmack zu tun? Mein 21-jähriges Patenkind hört schließlich Led Zeppelin! Wieso werde ich in diesen sehr engen Zeitraum gesperrt? Und wenn das schon passiert, warum bin ich dort alleine mit den Weather Girls und Bryan Adams? Wieso ist Stevie Nicks nicht da? Wo bleibt Anita Baker? Eine mögliche Antwort liefert der MDR THÜRINGEN: „Testpersonen werden von Meinungsforschungsinstituten ausgewählt und eingeladen. Rund 500 Titel werden im Rahmen solcher Tests untersucht und wer durchfällt, der schafft es auch nicht ins Programm.“ Dort meint man außerdem, dass man nicht beliebig Musikstile mischen dürfe. „Es sei denn, man macht ein Programm oder eine einzelne Sendung für die relativ kleine Zielgruppe der Liebhaber genau solcher Mischungen.“

Allen, die sich einer relativ kleinen Zielgruppe zugehörig fühlen, bleibt nur eins: die Flucht ins Internet. Ironischerweise macht sie dieselbe Art von Technologie möglich, die den DJ aus dem Radio verbannt hat.

Das Internetradio kennt keine Grenzen. Und so findet der Interessierte plötzlich heraus, dass es Länder gibt, in denen der öffentlich-rechtliche Rundfunk es dem Zuhörer zur besten Sendezeit zutraut, sich auf Andersartiges und Seltenes einlassen zu können. Dort folgt Elvis manchmal auf Emeli Sandé und Queensrÿche auf Sarah Vaughan. Berichte von Ohnmachtsanfällen fehlen. Niemand löst deswegen einen Shitstorm auf Facebook aus.

Wie ist das nur möglich? Sind die Bewohner anderer Länder weniger gleichförmig als wir? Unvoreingenommener gegenüber dem Unbekannten und Neuen? Die Existenz von unabhängigen Sendern wie radio x, die sogar noch über UKW in die Haushalte kommen, belegt, zumindest für einen Teil der Bevölkerung, das Gegenteil. Was treibt die Macher der (im Hinblick auf die Musikauswahl) faden Rundfunksendungen also an? Das finden wir vielleicht heraus, wenn die ersten Hörer von hr1 von der Venus zurückkehren. Vielleicht nie.

1980 sorgten die Buggles mit ihrem Hit „Video Killed the Radio Star“ für angsteinflößende Visionen. Die haben sich allerdings nicht bewahrheitet. Das Radio existiert weiterhin; Stars, von früher wie von heute, finden dort immer noch ein Plätzchen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk aber tötet im Namen der Masse allmählich die Musikvielfalt in seinem Hauptprogramm.

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