Algorithmen sind wie lange, verschachtelte To-Do-Listen. Sie bestehen aus einer Folge von Anweisungen, mit denen man ein bestimmtes Problem lösen kann. Dank der Technik, die uns umgibt, begegnen wir diesen Problemlösern an jeder Ecke unseres Alltags. Doch sollen sie zumeist gar nicht unsere eigenen Probleme lösen, sondern die der Unternehmen, die mit uns Geld verdienen wollen.
Es fängt an beim morgendlichen Radioprogramm. Bei vielen Radiostationen wählt derselbe Algorithmus immer wieder dieselben Songs aus. Das akustische Einerlei führt dazu, dass der Zuhörer die Sender nur noch daran unterscheiden kann, wie sehr das jeweilige Moderatorenpaar nervt. (Es ist immer ein Paar.) Aber die Zielsetzung heißt schließlich nicht, die Beiträge der Gebührenzahler sinnvoll zu verwenden oder gar den Horizont der Hörerschaft zu erweitern. Letztere Aufgabe sollte man sowieso selbst übernehmen. Dafür gibt es beispielsweise soziale Netzwerke.
Die möchten ihre Mitglieder mit anderen Menschen zusammenbringen. Deshalb stellen sie uns regelmäßig Kontakte vor, die wir entweder längst vergessen wollten oder noch nicht kennen, jedoch – nach Ansicht des Algorithmus – interessant finden könnten. Das Team von Xing scheint sich außerdem vor Kurzem dem Thema Selbstfindung verschrieben zu haben: Seit Wochen stellt mir der wöchentliche Newsletter mit den Worten „Erweitern Sie Ihr Kontaktnetzwerk! Wen kennen Sie noch?“ mein eigenes Profil vor. Ergänzt durch die anschließende Aussage: „Sie haben gemeinsame Kontakte.“ verwirrt mich das Ganze allerdings mächtig.
Ich könnte theoretisch mit Hilfe einer Suchmaschine recherchieren, welche Absichten Xing verfolgt. Aus zwei Gründen unterlasse ich es: Zum einen verstört mich das Frauenbild der deutschsprachigen Suchgemeinde. (Tippen Sie „Frauen sollten“ in Google ein und lassen die Autovervollständigung zu. Das hat der WDR schon einmal getan und seitdem ist es nicht besser geworden.)
Zum anderen weiß ich, dass die Ergebnisse auf mein bisheriges digitales Verhalten abgestimmt sein werden. Wie soll ich über den Tellerrand hinausschauen, wenn ich immer nur in meiner eigenen Suppe schwimme?
Gar nicht – sagen sich nicht wenige, die Algorithmen zu Verkaufszwecken nutzen. Im Rahmen einer Artikelserie rund um das Thema „Unterhaltung im digitalen Zeitalter“ kam der Economist zu dem Schluss: Es ist wesentlich leichter, Dinge zu empfehlen, die den bereits bekannten ähneln. Denn Neues bedeutet immer ein Risiko – vor allem für den Verkäufer.
Wer also das Unbekannte sucht, wird sich der Herausforderung stellen müssen, ab und zu selbst für Abwechslung zu sorgen: mit einer To-Do-Liste auf Papier oder einer analogen Unterhaltung mit Fremden. Arbeitet so ein Mensch dann auch noch im Bereich Marketing, spricht er sich möglicherweise dafür aus, Algorithmen vernünftig und gemäß dem von Google abgelegten Motto „Don’t be evil.“ einzusetzen.
Der Weg, er wird für die meisten kein leichter sein. Denn zahlreiche Unternehmen stehen in Zeiten von Big Data immer noch wie ein Ochse vor einem riesigen Datenberg. Statt strategisch vorzugehen, lassen sie sich auf eine punktuelle, kurzsichtige Betrachtung ein. Schuld daran sind ironischerweise recht häufig Marketingleute, die entweder Schreckensszenarien schaffen und so Kurzschlussreaktionen fördern, oder das Blaue vom Himmel versprechen und damit in die Irre führen. Gerne bedienen sie sich dabei einer Art der Kommunikation, die an Hexenmeister erinnert.
„Die Basis der Empfehlungsmodelle bilden Frequent Itemset Mining Algorithmen wie beispielsweise der Apriori Algorithmus. Die eigentliche Intelligenz der Empfehlungsmodelle wird darauf aufbauend durch hochperformante Algorithmen aus den Bereichen Association Mining, Collaborative Filtering, Weighted Scoring, Boosting und Relevance Modelling erreicht.“ (econda.de)
Es erfordert einigen Mut, während eines hochkarätig besetzten Meetings Aussagen von vermeintlichen Spezialisten in Frage zu stellen. Wie viel leichter ist es da zu sagen: „gekauft“!
Algorithmen sind hervorragende Werkzeuge über deren Einsatz immer noch der Mensch entscheidet. Der rechnet zwar wesentlich langsamer, doch ist Mathe nicht alles im Leben. Hätte ein Mensch sich meine Xing-Kontaktempfehlung angesehen, wüsste er, dass da etwas schiefläuft. Womöglich haben sich die Marketingleute, die die Programmierung in Auftrag gegeben hatten, inzwischen weitaus wichtigeren Aufgaben zugewandt und lassen den Computer machen – ohne sich um die Folgen zu kümmern. Das Dumme daran: dem Algorithmus sind die Folgen seines Tuns egal. Die Verantwortung trägt derjenige, der Anweisungen erteilt.
Also, falls Sie demnächst planen, sich eines Algorithmus zu bedienen: fangen Sie bescheiden an. Führen Sie ein Marketing Audit durch. Haben Sie eine klare Strategie ausgearbeitet, dann kehren sie bei deren Umsetzung zur ursprünglichen Funktion des Algorithmus zurück: Benutzen Sie ihn, um Schritt für Schritt ein konkretes Problem zu lösen. Und: vergessen Sie nicht, fortwährend den Erfolg zu kontrollieren.
4 Gedanken zu „Der Algorithmus: Ein Werkzeug ohne Verantwortungsbewusstsein“