Tauben in Wandnischen

In der Nische

Wäre Harry Potter schon 1988 J.K. Rowlings Feder entsprungen, hätte ich ihn vermutlich um seine bescheidene Bleibe unter der Treppe beneidet. Denn mein Klappbett stand zwischen einem Stoffschrank und einem Tisch mit drei Stühlen, der wiederum an der Schlafcouch meiner Eltern klebte. Der Junge verfügte wenigstens über ein paar Quadratzentimeter Privatsphäre! Selbstverständlich hätte ich im nächsten Moment feststellen müssen, dass Harry mich in eine Erdkröte verwandelte. Schließlich lebten meine Eltern noch und die einzige Narbe in meinem Gesicht stammt nicht von Lord Voldemort, sondern dem Versuch, eine Rolle auf einer verrosteten Teppichklopfstange zu drehen.

Glücklicherweise erschien der erste Band erst neun Jahre später und ich entwickelte mich zu einer erwachsenen Person ohne Schleimschicht. Doch obwohl ich inzwischen ein geräumiges Arbeitszimmer mein Eigen nenne (Virginia Woolf wäre begeistert – lesen Sie hierzu: „Ein eigenes Zimmer“), faszinieren mich Nischen. Nicht nur die in verwinkelten Buchläden oder alten Häusern, in denen sich die Geister ehemaliger Bewohner:innen miteinander unterhalten. Sondern schlichtweg überall.

Damit bin ich nicht alleine. Mit meinem Freund N. diskutiere ich beispielsweise häufig darüber, warum es so wenige Produkte gibt, die funktional ausgereift sind und gleichzeitig allgemein zugänglichen Designprinzipien folgen. Verleiht hässliches Aussehen der Sache etwa mehr Ernsthaftigkeit? Basiert die Entwicklung auf dem mittelalterlichen Klischee, Intelligent und Schön ließen sich nicht in Einklang bringen? Zu Recht wenden Sie jetzt vermutlich ein: Schönheit liegt im Auge der Betrachter:innen. Wir sprechen hier aber über das völlige Fehlen von Bemühungen, auf zahlreichen Gebieten.

Wenn Sie, wie ich, im Alltag Fahrrad fahren, wundern Sie sich eventuell, warum alle Fahrradhandschuhe so aussehen, als wollten wir morgen zu hunderten eine Expedition Richtung Patagonien antreten. Bis zum letzten Herbst war ich der Überzeugung, das sei ein globales Phänomen. Doch dann stolperte ich in einen kleinen Pariser Fahrradladen. Der Besuch fühlte sich aufregender an als jede Ausstellung im Musée d’Orsay. Neben Ponchos, die nicht aussahen wie wiederverwendete Müllsäcke, und Körbchen, in denen auch Sie gerne Ihr Obst oder Ihr Neugeborenes transportieren würden, hingen stylishe Handschuhe. Ihre Zeigefinger versprachen die problemlose Bedienung von Touchscreens. Und jetzt halten Sie sich fest: Aus der Manschette ließ sich bequem ein Regenüberzug mit reflektierenden Streifen herausziehen. Ohne zu zögern schnappte ich mir ein Paar. Seither ziehe ich diese Wunderhandschuhe nur noch zum Baden aus und mache permanent unbezahlte Werbung für sie. So etwas tue ich sonst nur im Falle von Margaret Atwood Büchern oder deutschen Croissants, die nicht schmecken wie in Fett getunkte Pappe.

Beim Kauf eines neuen Kühlschranks hatte ich weniger Glück. Tippen Sie in die Suchmaschine Ihres Vertrauens den Begriff „No Frost Kühlschrank“ ein und betrachten die Bilder, die der Algorithmus ausspuckt. Welche Verschwörung führt bitte dazu, dass diese Dinger aussehen, als gehörten sie in die Pathologie? Ich weiß, ich weiß. Inzwischen vertreibt die Marke SMEG einen No Frost Kühlschrank. Was aber bleibt jenen, die nicht in der Illusion leben wollen, wir befänden uns im Jahre 1955?

Im öffentlichen Raum sieht es leider nicht besser aus. Je kreativer die Menschen darin werden, ihre Umwelt und ihre eigene Art zu zerstören, desto eintöniger und brutaler reagieren die  Verwalter:innen von Recht und Ordnung. Müssen Absperrungen zum Schutz vor terroristischen Angriffen wirklich eine apokalyptische Kulisse aus Trümmern simulieren? Und was sollen diese Poller auf den Straßen oder zwischen Parklücken aussagen, die aussehen wie überdimensionierte Betonstempel? Voraussichtlich stellt jemand diese Monster irgendwo billig zu Millionen her. Aber wozu zahle ich Gewerbesteuer? Und warum lassen wir nicht Graffitisprayer ran?

Die Antwort fällt sicher komplex aus. Seien wir jedoch willens, uns alle Aspekte anzuhören, selbst wenn es länger dauert – sofern die individuellen Umstände es zulassen. Denn der Hunger nach einfachen Lösungen und der Konsum von Informationen in verarbeiteter Form verfälschen die Wahrnehmung und mindern das Vorstellungsvermögen. Kinder, die immer nur Fischstäbchen essen, können sich selten vorstellen, dass der Anemonenfisch aus „Findet Nemo“ derselben Familie angehört wie die panierten Quader auf ihren Tellern. Erwachsene, die ihre Informationen alleine aus Tweets und Tickern beziehen, ohne die dahinter stehenden Nachrichten selbst zu lesen, können das Vorgekaute kaum hinterfragen.

Das bringt uns wieder zurück zu J.K. Rowling. Sie erschuf eine Welt von Zauberern und Zauberinnen. Heute sieht sie sich hingegen Hexenprozessen ausgesetzt. In der Ära der Wokeness, also einer hohen und – laut Duden – „gelegentlich engstirnigen oder mit militantem Aktivismus verbundenen“ Sensibilität, wenden Menschen längst vergessene Methoden an, befähigt durch Plattformen, die etwaiger Aktivismus sehr reich macht. Diese Entwicklung weckt Assoziationen an die Zeit der Aufklärung und die Französische Revolution, während der unbequeme Köpfe allzu schnell rollten. Ab 21. Januar 2023 steht es Ihnen frei, sich in den Nischen-Podcast von Megan Phelps-Roper zu schleichen. Sie führte eine Reihe von ausführlichen Interviews mit J.K. Rowling.

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