Skulptur aus Buchstaben als Symbol für die vielen Worte im Geschäftsbericht

Zwischen den Zeilen

Robert Bosch war dagegen. Bertelsmann, Tchibo und Dr. Oetker haben den Schritt auch nicht gewagt. Nicht jedes Unternehmen möchte an die Börse. Nachvollziehbar, denn dort bekommt man im Gegenzug für Kapital ein dickes Bündel mit Folgen: Zwang zur Transparenz, Aktionäre deren hauptsächliches Interesse Erträgen gilt und Quartalspanik werden zu ständigen Begleitern im Alltag. Wem das nichts ausmacht, der wünscht sich beim wichtigsten deutschen Aktienindex gelistet zu sein, dem DAX. So wie die dreißig größten und umsatzstärksten Unternehmen, die ihren Platz immer wieder aufs Neue verteidigen müssen.

Am Ende eines jeden Geschäftsjahres legen diese Unternehmen Rechenschaft ab. Das Medium, das sie dazu nutzen, heißt Geschäftsbericht. Und der hat es in sich. Mit so einem Geschäftsbericht kann man sich stundenlang auseinandersetzen. Kein Wunder, umfasst das Druckwerk im Durchschnitt 282 Seiten. Die Deutsche Bank kommt auf 580 Seiten, Continental begnügt sich mit 272 und Linde ist mit 134 geradezu bescheiden. Wenn Sie eine Agentur sind, die gerne einmal einen Geschäftsbericht in Form bringen möchte oder eine Druckerei, dann sollten Sie sich diese Zahlen merken.

Wenn Sie einfach nur neugierig auf die Ablagesysteme großer Unternehmen sind, dann schauen Sie sich die Namen der PDF Dateien an. Die beliebteste Abkürzung ist „gb_2012_DE“ und wird von drei DAX 30 Unternehmen verwendet, die ansonsten nichts miteinander zu tun haben. Manche drücken sich kurz und bündig aus: „bericht2012“. Andere mögen es lieber kompliziert: „Q4_2012_Annual_Report2_DE_tcm1613_105641“. Gestalterisch bewegen sich die Berichte irgendwo zwischen sachlich, freundlich, verwirrend, übertrieben fröhlich und langweilig. Wer also schlaflos ist, aber an einer Schaf-Phobie leidet, könnte – statt Tiere zu zählen – anfangen, einen dieser langweiligen Wälzer zu lesen. Erfolg garantiert.

Aber im Grunde genommen kommt es auf den Inhalt an. Denn in so einem Geschäftsbericht findet man allerlei Wissenswertes. Den Brief des Vorstandsvorsitzenden zum Beispiel. Oder den Bestätigungsvermerk des unabhängigen Abschlussprüfers. Zugegeben, spannender sind die – nicht selten innerhalb eines Berichtes variierenden – Kennzahlen. Man erfährt welche Geschäftsfelder wie viel Gewinn abwerfen und in welcher Region der meiste Umsatz gemacht wird. Die Lenker der DAX 30, die diese Kennzahlen verantworten, stellen sich häufig mit Bild vor. Seltsamerweise sucht man die Vielfalt, von der in jedem der Berichte ganz ausführlich gesprochen wird, auf den Fotos der Vorstände vergeblich. Zumeist begegnen einem ältere Herren in grauen Anzügen. Aber das nur am Rande.

Wenn Sie darüber nachdenken, in einem der DAX 30 Unternehmen zu arbeiten, dann möchten Sie vielleicht wissen, ob es einen Vorstand gibt, der für die Themen Marketing, Marke oder Vertrieb verantwortlich ist. Zurzeit gibt es so einen Vorstand nämlich nur in acht der dreißig Unternehmen. Bei adidas, Beiersdorf, BMW, der Deutschen Telekom, HeidelbergCement, Infineon Technologies, SAP und Volkswagen sitzt einer, der Sie in Marketing-Belangen in der obersten Etage unterstützt. Wer jemals in einem börsennotierten Unternehmen gearbeitet hat, weiß, wie wichtig das für seine eigene Gesundheit sein kann.

Schon auf der Titelseite eines Geschäftsberichtes bekommt man ein Gefühl dafür, was einen auf den folgenden Seiten erwartet. Immerhin siebzehn der Unternehmen sprechen ihre Aktionäre auf Deutsch an. So viel Mühe ist angesichts der fortschreitenden Globalisierung und weitverbreiteten Vorliebe für englische Begriffe, die keiner versteht, wirklich erstaunlich. Was zur Begrüßung gesagt wird, ist sehr unterschiedlich. Merck zeigt Wege ins Morgen auf. K+S möchte Wachstum erleben. Die Deutsche Telekom wiederum will, dass wir erleben, was verbindet. Außerdem glaubt sie an eine Welt voller Möglichkeiten. Datendrosselung war bei Abschluss des letzten Geschäftsjahres ja auch noch kein Reizthema.

Beiersdorf begrüßt mit einer klaren Vision: We are Skin Care. Visionen sucht man bei anderen vergeblich, dafür finden sich viele verschiedene Unternehmenstrategien. Einige werden sogar so detailliert beschrieben, dass man anfängt, sich Notizen für einen Sachbuch-Bestseller zu machen. Vor allem aber lassen sich Vorgaben für Marketingstrategien ableiten: Die Deutsche Bank verrät, dass sie eindeutig definierte Kundengruppen hat und einen tiefgreifenden kulturellen Wandel als unerlässlich betrachtet. Daimler möchte nicht um jeden Preis wachsen, sondern nachhaltig profitabel. BASF setzt auf Innovationen, um Kunden erfolgreicher zu machen. Volkswagen weiß, dass die Hingabe der Mitarbeiter ein Schlüssel dafür ist, die besten Autos zu bauen, die umweltverträglichsten Fabriken zu betreiben und den kundenfreundlichsten Service zu liefern.

Eine ausformulierte Marketingstrategie entdeckt man freilich in keinem der Geschäftsberichte. Aber einige Unternehmen geben wertvolle Einblicke in ihre Zielsetzung. Die Deutsche Post positioniert sich als „Die Post für Deutschland“ und „Das Logistikunternehmen für die Welt“. Sie verpflichtet sich, ihren Markenwert zu erhalten und weiter zu steigern – schließlich belegt die DHL Platz 98 auf der Liste der wertvollsten Marken von Millward Brown. Bayer und Infineon Technologies verraten, dass sie formelle Partnerschaften eingehen und beweisen damit, dass ihnen das Motto „Mit wem man sich umgibt, so wird man“ nicht fremd ist. SAP beschreibt die Vertriebswege, Daimler seine Kommunikationsstrategie für die A-Klasse. Doch der schönste Beitrag stammt nicht etwa von einem Business to Consumer Unternehmen, sondern von Thyssen Krupp. Das Unternehmen erzählt von Markenführung und einem Marketinggremium, das an der Harmonisierung der zentralen und dezentralen Prozesse arbeitet. Zudem werden Websitestatistiken, Social Media Initiativen und Veranstaltungen beleuchtet. Ein weiteres Business to Business Unternehmen legt offen, wie viele weibliche oder männliche Kollegen sich mit dem Thema Marketing befassen, und zwar nach Region. Schlagen Sie hierzu Seite 45 des Geschäftsberichtes von Lanxess aus dem Jahre 2012 auf.

Insgesamt 8.459 Seiten umfassen alle DAX 30 Berichte. Statt dessen könnte man natürlich „Die Elenden“, „Anna Karenina“ und „Die Chronik der Menschheit“ lesen. Die verraten allerdings nichts darüber, ob der Staat bald wieder einer gesamten Branche unter die Arme greifen oder ein bestimmtes Unternehmen retten muss. Andererseits sagte Konfuzius schon: Wer alles glaubt, was er liest, sollte besser aufhören zu lesen.

In diesem Sinne: Gute Unterhaltung!

 

Nachtrag, 19. August 2013, 11:20 Uhr

Für alle Fans von Statistiken – ein Geschenk von FREIWASSER Marketing:
DAX 30: Vorstände

DAX 30: Mitarbeiter

DAX 30: Aufwand

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