Ein junger Prinz ist mit seiner prätentiösen Lebensweise unglücklich. Eines Tages begegnet er einem Bettlerjungen, der dem Aussehen nach sein Zwilling sein könnte. Auch der kann seinen Alltag nicht so recht leiden. Also tauschen sie hastig ihre Rollen. Doch schon bald behagt dem Prinzen sein neues Leben nicht. Auf der Flucht davor trifft er auf einen Soldaten, fasst Vertrauen zu ihm und erzählt von dem Rollentausch. Obwohl der Soldat dem Jungen kein Wort glaubt, behandelt er ihn königlich. Die Tage vergehen, der Prinz wird doch gekrönt und die Geschichte geht für fast alle Beteiligten gut aus.
Mark Twains Erzählung „Der Prinz und der Bettelknabe“ ist sehr vielseitig. Sie bringt uns etwas über Klassenunterschiede bei, skizziert wie Alkohol sich auf den Charakter auswirkt, und verrät, dass Zufälle ein Leben auf den Kopf stellen können. Vor allem aber, warnt sie davor, vorschnell zu urteilen.
In einer Welt, in der Kunden in ABC-Töpfe gesteckt oder unfreiwillig einer wildfremden Gruppe zugeordnet werden, erweist sich die vorurteilsfreie Behandlung des Einzelnen als schwierig. Halt! Der Einwand aller, die jetzt aufschreien, ist berechtigt. Kundensegmentierung ist durchaus sinnvoll. Sie bildet die Grundlage wirtschaftlichen Erfolgs. Zum einen, weil sie erlaubt, zielgerichtete Geschäftsentscheidungen zu treffen. Zum anderen, weil sie dabei hilft, den unterschiedlichen Ansprüchen der Kunden gerecht zu werden. Im wahren Leben wie im Marketing gilt schließlich das Credo: Man kann es nicht jedem recht machen.
Die Kunst besteht zunächst darin, sinnvolle Segmente zu definieren. Viele behaupten ja, das sei im Business-to-Business Bereich einfacher als im Business-to-Consumer Bereich. Aber ist das wirklich so?
Es gibt zwei wesentliche Voraussetzungen dafür, Segmente überhaupt bilden zu können. Erstens: Die Objekte der Begierde haben etwas gemeinsam. Zweitens: Diese Gemeinsamkeiten lassen sich anhand von Beweisen zuordnen.
Beweise stecken üblicherweise in Daten. Und an dieser Stelle stoßen wir auf einen Stolperstein. Es hat sich zwar eingebürgert, Daten als das neue Öl zu preisen. (Zum Glück widersprechen ernsthafte Publikationen wie der Harvard Business Review dieser Behauptung ab und an.) Doch viele Unternehmen speichern die wertvolle Ressource immer noch in dezentralen Systemen, deren Unvereinbarkeit dafür sorgt, dass der Absatz des Posters „I want to believe“ nie abreißen wird. So kommt es, dass sich die meisten auf simple Lösungen beschränken, bei denen ein grobmaschiges Sieb zum Einsatz kommt.
Ein Blick auf die Suchmasken von Firmendatenbanken, die heute alle Dun & Bradstreet (D&B), dem weltgrößten Dienstleister für Business-to-Business Wirtschaftsinformationen, zu gehören scheinen, lässt erahnen, welche Kriterien Unternehmen für die Segmentierung wählen: Industriezugehörigkeit, Geografie, Umsatz und Gewinn. Bei bestehenden Kunden kommen der mit den Unternehmen getätigte Umsatz, erwirtschaftete Gewinn oder die Wahrscheinlichkeit, noch mehr Geschäfte machen zu können, hinzu.
Sind die Segmente definiert, beziehen Unternehmen sie in Strategien ein und bilden sie, falls vorhanden, in Customer Relationship Management Systemen ab. Organisationen, die bestimmten Kriterien entsprechen, ordnen sie dann mehr oder weniger ordentlich zu.
Eine Tatsache gerät bei dieser Betrachtung jedoch häufig in Vergessenheit: Organisationen werden von Menschen gelenkt. Diese Menschen treffen Entscheidungen darüber, ob ein Unternehmen zum profitablen Kunden wird oder nicht. Und hier treffen wir auf einen zweiten Stolperstein: Kurzsichtigkeit. Bestimmte Individuen neigen dazu, andere Menschen aufgrund ihrer derzeitigen Position wie Bettler zu behandeln. Sie übersehen: Der Bettler von heute kann schon morgen eine Krone tragen und der heute noch Hofierte zum Narr degradiert werden.
Da hilft es, sich von geschäftsschädigenden Individuen zu trennen und die Beziehungspflege auf der menschlichen Ebene auch im Business-to-Business Bereich auszubauen. Wer seine Geschäftskontakte langfristig pflegt, schafft Voraussetzungen für zukünftige Entscheidungen. Und weil die Reisebereitschaft größer ist als je zuvor, multipliziert diese Praxis die Chancen innerhalb eines gesamten Kundensegments: Zieht ein Kontakt weiter, vergisst er die Behandlung, die man ihm zukommen ließ, nicht.
Klingt komplex? Ist es gar nicht. Man muss nur wollen. Vor allem der König. Denn er vermag es Strukturen zu schaffen. Und er regiert das Volk.
Foto: Buchumschlag „Królewicz i Żebrak“, Mark Twain, Iskry 1960, illustriert von Mirosław Pokora