Ein Schuhgeschäft schließt. Eine Malbar eröffnet. Ein Buchladen schließt. Eine Malbar eröffnet. Ein Tante-Emma-Laden schließt. Eine Malbar eröffnet. Nachdem sie mithilfe von Datenkraken, deren digitale Kaufhäuser unwiderstehliche Angebote präsentieren, Buch- Schuh- und Tante-Emma-Läden ruiniert haben, erholen sich Onlinekonsument:innen immer häufiger in Kreativwerkstätten für Keramikbemalen von der Bildschirmzeit.
Die Zerstörung von Existenzen erfolgt nicht mit Absicht. Bloß ohne einen Gedanken an Konsequenzen. Doch wen wundert es. Den beruflichen Alltag dieser Konsument:innen steuern ebenfalls Bildschirme (es sei denn, sie arbeiten als Pfleger:in, Gabelstaplerfahrer:in oder Clown in einem analogen Zirkus).
Effizienzbesessenheit
Die Industrialisierung steckte Menschen einst in Fabriken und verglaste Hochhäuser ohne Frischluft. Die Digitalisierung schickt sie wieder in die eigenen vier Wände zurück. Während zahlreiche Produktionsstätten längst in anderen Ländern stehen, werden langfristig etwa 30 Prozent weniger Büros gebraucht. Nicht nur, weil das Homeoffice sich einer gewissen Beliebtheit erfreut. Die Entwicklung folgt dem allgemeinen Trend zur Effizienzbesessenheit.
Immobilien stellen für viele Unternehmen immerhin den zweitgrößten Kostenfaktor dar. Und der lässt sich durch Flächenreduzierung wesentlich beeinflussen. (Der Wechsel von Einzelbüros zu Open Spaces zu flexiblen Schreibtischen mit Rollcontainern zu Buchungssystemen für einzelne Arbeitsplätze hin hat nur entfernt etwas mit Kreativität und Dialogbereitschaft zu tun.) Das größte Potenzial, den Einsatz von Ressourcen zu minimieren, bietet aber das Personal. Weshalb man stets steigende Performance heute nicht nur von Schrottpressen oder Kühen, sondern auch von Menschen verlangt.
Als die ersten Kaufhäuser Ende des 19. Jahrhunderts unzählige Einzelhändler:innen verdrängten, wollten sie das Einkaufen zu einem Erlebnis machen. Effektivität stand im Vordergrund (und damit Qualität). Überdachte Passagen ermöglichten zur gleichen Zeit, vornehmlich den Reichen, das Flanieren ohne Schlammspritzer an den Schuhen. Als Effizienz an Beliebtheit gewann, entstanden Supermärkte, in denen Kund:innen aller Einkommensklassen selbst ans Regal liefen und tiefgekühlte Erbsen genauso wie Handtücher in einen überdimensionierten Einkaufswagen warfen. Wer heute überhaupt noch sein Haus verlässt, um zu shoppen, darf zunehmend am Selbstbedienugsterminal Kassierarbeit erledigen. Organischer Kundenservice, der wirklich weiterhilft, findet sich nur an Orten für Idealist:innen und Nostalgiker:innen. Menschen verschwinden allmählich aus dem Beziehungsgeflecht. Künstliche Erzeugnisse durchziehen schließlich unser gesamtes Leben – von Wimpern über Verknappung bis hin zur Intelligenz. „Echt“ kommt häufig mit einem Fragezeichen daher.
Angebotspalette
Die Zeit des Umbruchs, ohnehin von Unsicherheit gekennzeichnet, wird von vielen Herausforderungen begleitet. Kriege brechen aus. Machtgierige Besitzer asozialer Plattformen fordern politische Systeme heraus. Und so entsteht eine Symptomindustrie, die etliche Bereiche umfasst.
Bücher wie „Unfog Your Mind: Perspektivwechsel für mehr Lebenslust und LeichtSinn“ wollen den vernebelten Verstand zum (Um)Denken bewegen. Coaches (Life-, Leadership-, System-, Mental-, Produktivitäts-, Meditations-, Wellbeing-, Change-, Transformational-, Creative- oder Lach-Coaches, zumeist mit schlechten Erfahrungen ausgestattet, aus denen sie Erkenntnisse schöpfen) bieten Orientierungsdienste an. „Heimkehr“-Kerzen heißen die Homeoffice-Spezies abends beim Wechsel vom Küchentisch ins Wohnzimmer willkommen. „Body Positivity“-Tee („Kräuter Kraftbündel“) flößt Wärme ein, wenn sie sich in ihrer Haut nicht wohl fühlen. Wurzelchakra-Öl unterstützt dabei, Stabilität zu finden. Sakralchakra-Öl fördert Leidenschaft. Herzchakra-Öl öffnet das Herz für Liebe und Mitgefühl. USB-Tassenwärmer („automatische Abschaltung nach 8 Stunden“) und Punchingballs („ideal als Ablenkung beim Home-Office“) für den Schreibtisch sorgen dafür, dass Mitarbeitende nie den Arbeitsort verlassen müssen. Mikrochips unter der Haut ermöglichen ein kontaktloses Türöffnen oder einen Visitenkartentausch, bei dem sich garantiert niemand zu nahekommt. Sie eignen sich als Basis für das individuelle Upgrade.
Dann gibt es noch Millionen von Apps. Zum Beispiel Happify, ein Tool, das hilft, ein glücklicheres und gesünderes Leben zu führen („Ein wenig Zeitaufwand kann große Veränderungen bewirken.“).
Und nun?
„In Wirklichkeit ist Fortschritt nur eine Geschichte, die sich jede Generation erzählt, um die Unwissenheit, Angst und Vorurteile des eigenen Zeitalters zu rechtfertigen.“
Scott Turow, Day Six / Fourteen Days*
In Anbetracht der bisherigen Entfaltungsgeschichte der Menschheit lässt sich diese eher pessimistisch lesbare Sichtweise durchaus nachvollziehen.
Andererseits könnten wir dem Zeitgeist trotzen und andere Realitäten schaffen.
Wann, wenn nicht jetzt?
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*eigene Übertragung ins Deutsche
Foto: Zeitgeist / Fassade in Wien