Ob der menschlichen Notwendigkeit, Artgenoss*innen in Schubladen zu stecken, gehöre ich verschiedenen Gruppierungen an. Manche Kästchen versammeln viele, die sich mit mir ein Merkmal teilen. Andere erinnern an ein Programmkino, das kurz vor Mitternacht kasachische Filme zeigt. Die Zuordnung erfolgte teils schon bei der Geburt. Frau, blauäugig, Äpfel liebend. Für weitere Schubfächer habe ich mir im Laufe der Zeit eine Eintrittskarte besorgt. Frankfurterin, Fahrradhelmträgerin, Freelancerin.
Während mich selten jemand fragt, warum ich eigentlich einen Fahrradhelm trage (weil ich noch nicht alle Bücher von Olga Tokarczuk gelesen habe), beschäftigt sich derzeit das halbe Universum mit den Freelancer*innen – gefühlt, denn selbstredend lebe ich (so wie Sie in Ihrer) in meiner eigenen Informationsblase.
Frei und für gewöhnlich ohne Lanze
„Freelance“ kommt aus dem Englischen und meinte ursprünglich Söldner*innen (free = frei und lance = Lanze). Söldner*innen gibt es bis heute, doch umfasst der Begriff allen voran üblicherweise unbewaffnete Menschen, die auf eigene Rechnung tätig und in den meisten Fällen Soloselbstständige sind.
In Deutschland existieren (mindestens) zwei völlig entgegengesetzte Meinungsbilder zu ihnen. Einerseits gelten Freelancer*innen als unabhängige Expert*innen, die dank ihrer Fähigkeit, remote und flexibel zu arbeiten, helfen, die digitale Transformation schneller zu wuppen. Andererseits gelten sie als Drahtseiltänzer*innen: kurios, waghalsig, der normalen Welt völlig entrückt.
Es kommt darauf an, wen Sie fragen.
Insignifikante Minderheit, deren Gruppengröße schrumpft
Das Statistische Bundesamt rechnete 2018 aus, 4,8 Prozent aller Erwerbstätigen in Deutschland seien Selbstständige ohne Mitarbeiter*innen. Das entspricht so in etwa 2,5 Millionen. Seit Beginn der Erhebung 1990 war der Prozentsatz 2005 mit 6,1 Prozent am höchsten. Ab 2012 sinkt er kontinuierlich. Die Erklärung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales dafür lautet: „Der Arbeitsmarkt bietet angesichts der günstigen Konjunktur oft bessere Beschäftigungsalternativen.“ (Besser? Wer bestimmt eigentlich darüber, was für uns gut ist? Gar nicht wir selbst?) Dass irgendwer freiwillig diese Art des Lebensunterhalts wählt: schier undenkbar.
In Deutschland schafft man entweder Arbeitsplätze oder belegt sie. Andere Wege, sich an der Gesamtwirtschaft zu beteiligen, liegen außerhalb des Vorstellungsvermögens der Arbeitsplatz-schaffen-oder-belegen-Mehrheit. Das Statistische Bundesamt warnt daher: „Diese Form der Selbstständigkeit ist oft durch Instabilität und Unsicherheit gekennzeichnet, da Arbeitsausfälle nicht kompensiert werden können.“ (Von Netzwerken, deren voneinander unabhängige Mitglieder sich aufeinander verlassen können, hat die Wiesbadener Behörde noch nichts gehört.) In Corona-Zeiten werden die Verfasser*innen dieses Unkenrufs sicher mit dem Kopf nicken und denken: „Bitteschön. Wir haben es euch ja gesagt.“
Wollten Sie zufällig Soloselbstständige zeichnen, wäre ein Wimmelbild wohl die beste Wahl. Diese Gruppe schließt Reinigungskräfte ein, die uns davor bewahren, im Dreck zu versinken, genauso wie Pfannenverkäufer*innen, die samstags in einem Darmstädter Haushaltswarengeschäft erklären, welches Modell ein krosses Quinoasteak garantiert. Und natürlich den ein oder anderen Zirkusclown. Aber hätten Sie gewusst, dass die meisten Soloselbstständigen in der Land- und Forstwirtschaft wirken? Und nicht, wie man vermuten könnte, in der IT-Branche?
Bald wird jeder zweite Job durch Freelancer*innen besetzt
Nun jetzt atmen Sie wieder. (Und was heißt denn hier überhaupt besetzt? Freelancer*innen besetzen keine Jobs. Wir wollen ja gar keinen Job! Wir verkaufen Workshops, leiten Projekte, sind auf Stundenbasis zu mieten, bringen neue Sichtweisen. Wir erledigen Aufgaben, ohne an unternehmensinternen „Games of Thrones“ teilzunehmen.) Diese bedeutungsschwangere Vorhersage, von HalloFreelancer aufgegriffen, treffen vor allem sich zunehmend vermehrende Freelancer*innen-Plattformen wie Upwork oder Fiverr. Sie agieren häufig global und haben ein gesundes Eigeninteresse, genau solche Aussagen zu verbreiten. Konkrete Zahlen stammen außerdem häufig aus Studien von Beratungsunternehmen, deren Hauptsitz nicht in Deutschland liegt, wie McKinsey. Die behaupteten bereits vor vier Jahren bis zu 30 Prozent der arbeitenden Bevölkerung in Europa und den USA seien Freelancer*innen.
Obwohl. Vielleicht ahnen die Bewohner*innen anderer Länder, dass nichts bleiben kann, wie es ist?
Fachkräftemangel, hybride Teams und die digitale Transformation
Amerikanische Konzerne wie Procter & Gamble setzen schon heute ganz bewusst auf eine Mischung aus Festangestellten und Freelancer*innen. Da unabhängige Expert*innen ad-hoc Wissen und Erfahrung in Projekte einbringen, schaffen Unternehmen es, mit solchen hybriden Teams, besser und schneller auf Veränderungen zu reagieren. Weil wir hierzulande entweder Arbeitsplätze schaffen oder welche belegen, betrachten viele den Einsatz von Freelancer*innen allerdings als eine Notlösung. Strategisch geht kaum jemand das Thema an. Ungeachtet der Tatsache, dass der Fachkräftemangel ein großes Problem darstellt, New Work auf dem Vormarsch ist und die digitale Transformation alles auf den Kopf stellt.
Der Wunsch muss wohl sein, das starre Regelwerk der Industrialisierung so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. Dass Politik und Gewerkschaften Gedanken an alternative Modelle hinauszögern, lässt sich einigermaßen gut nachvollziehen (Wähler, die Arbeitsplätze belegen, mögen keine Veränderungen). Aber die Unternehmen? Vielleicht fürchten sie, das Argument (Arbeitsplätze gilt es um jeden Preis zu retten) zu verlieren, das ihnen Gehör verschafft, wenn sie einmal wieder Steuergelder für sich beanspruchen, obwohl sie Anleger und Kunden betrügen oder todgeweihte Technologien künstlich am Leben erhalten? Haben die den Ruf von Wolf Lotter nicht gehört?
„Das Schlagwort der Digitalisierung bedeutet das Ende einer Arbeitswelt, in der Fleiß über Kreativität steht. In der das Mitmachen wichtiger ist als das Selberdenken. Machen wir uns das klar genug?“
Gerade das freie Denken außerhalb vorgegebener Normen zeichnet alle Soloselbstständigen aus (na gut, beinahe alle), müssen wir doch jeden Tag aufs Neue einfallsreiche Lösungen finden und zielführende Entscheidungen treffen. Aber auf der Suche nach zukunftsfähigen Konzepten spielen Freelancer*innen nur vereinzelt eine aktive Rolle. In einigen Fällen werden wir vom Einkauf wie Schrauben bestellt, in anderen schlichtweg ignoriert bis ein Problem auftritt. Zu Anfang meiner Freelancerinkarierre erledigte ich Aufgaben für einen DAX 30 Konzern. Als viertes Glied in der Kette. Das bedeutet: Der Konzern beauftragte einen Dienstleister mit einer Aufgabe, der sie wiederum an ein Subunternehmen auslagerte, das seinerseits eine Agentur einschaltete, die letztendlich mich um Erledigung bat. Offiziell waren Freelancer*innen in dieses Projekt nicht involviert. Dank der Verschwiegenheitsklausel bleibt das Ganze für immer ein Geheimnis.
Plötzliches Erwachen nicht ausgeschlossen
Tausende von Angestellten machen gerade am eigenen Küchentisch oder auf dem Balkon ihren Job. Sie posten Fotos von Telefonkonferenzen auf Zoom, BlueJeans und Co, lesen Artikel mit Schlagzeilen à la „10 Überlebenstipps einer Homeoffice-Veteranin“ und verwandeln sich ab und an in Kartoffeln. Die Bundesregierung empfiehlt womöglich deshalb dringend, nicht im Schlafanzug mit dem Laptop auf dem Sofa zu sitzen.
Als Freelancer*innen staunen wir nur über den Umgang mit allzu offensichtlichen Tatsachen. Wozu dieses Schulterklopfen? Und die ausgiebigen Diskussionen? Wir sind es gewohnt, Teams, die über den gesamten Globus verteilt sind, zu führen, diszipliniert im Café Meetings abzuhalten und uns gleichzeitig dabei zu amüsieren. Wir genießen die Freiheit zu entscheiden und tragen das Risiko von der Politik vergessen zu werden, sooft es ihr passt. (Was nicht heißt, wir würden tatenlos zusehen.)
Wenn jetzt Arbeitsminister Hubertus Heil also plötzlich ein Gesetz vorlegt, wonach bestimmte Firmen die Arbeit von zu Hause aus ermöglichen müssen, wer weiß, was dann noch möglich ist?
Vielleicht denken wir mal ernsthaft darüber nach. Hoffentlich ziehen wir anschließend Konsequenzen.
Ein Gedanke zu „Nicht angestellt, nicht skalierbar, nicht fassbar“